RESUSCI ANNE





1950er

Resusci Anne ist der offizielle Name der standardisierten Trainingspuppe, die zum Erlernen und Trainieren der Herz-Lungen-Wiederbelebung (CPR) im Rahmen der Ersten Hilfe eingesetzt wird. In den 50er Jahren von Laerdal Medical entwickelt, wird die Puppe seither in allen Schulungen weltweit eingesetzt. In einem Interview erwähnte Asmund Laerdal, dass die Wahl eines weiblichen Übungsobjekts gewährleiste, dass Männer größeres Interesse am Erlernen von Wiederbelebung zeigen würden. Als das „meist geküsste Gesicht der Welt“, gibt Resusci Anne so immer wieder vor in Lebensgefahr zu schweben, nur um erneut reanimiert zu werden.

»Annie, are you ok Annie?«


1890er

Für das Erscheinungsbild dieses neuen Produkts zog der aus der Spielzeugindustrie stammende Asmund Laerdal ein bereits existierendes Gesicht als Vorlage heran. Angelehnt an eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Totenmaske, erhielt Resusci Anne das Gesicht eines ertrunkenen Mädchens. Auch bekannt als die Unbekannte aus der Seine (L’Inconnue de la Seine) oder auch Mona Lisa of Suicide, soll sich das junge Mädchen der Legende nach Ende des 19. Jahrhunderts infolge einer unglücklichen Liebesaffäre in der Seine das Leben genommen haben. Ergriffen von dem tragischen Schicksal kombiniert mit den rätselhaften Todesumständen gewann die Maske im 20. Jahrhundert an großer Popularität. Im Prozess der Kommodifizierung wurde das Abbild des jungen Mädchens zum Massenprodukt, populären Souvenir und dekorativen Einrichtungsgegenstand. Als ideale Projektionsfläche und Phantasma der perfekten Muse diente sie als Grundlage unzähliger literarischer, wie künstlerischer Werke, vorrangig männlicher Künstler.

»An endless history in a single thing. Escorted to climax by toymakers, doctors, pathologists, photographers, painters, writers, filmmakers, musicians, and a thousand other men I won’t mention here.«



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Juli 2019

Eine russische Travelbloggerin, Instagram Influencerin und angehende Ärztin wird ermordet in ihrem Reisekoffer gefunden. Für kurze Zeit ist ihr Schicksal weltweit viraler Gegenstand, was post mortem zu einer Verdoppelung ihrer Follower auf Instagram führt. Als im Zuge der Ermittlungen aufgedeckt wird, dass die junge Frau ihren luxuriösen Lebensstil mit einem Doppelleben als Escort finanziert hat, gerät die 24-Jährige in den russischen Medien stark in Kritik. In einer der quotenstärksten russischen Talkshows werden unzählige der insgesamt 651 Instagramposts der Ermordeten auf vermeintliche Zusammenhänge untersucht.


»A line I read on the Internet hits me hard.«



Was passiert bei der fragmentarischen Gleichschaltung und Überblendung dieser beiden Narrative?



In ihrer Videoarbeit erforscht Ida Kammerloch beide Frauenfiguren filmisch und verbindet Fragmente beider Erzählungen bildlich, wie sprachlich miteinander. Man sieht die Künstlerin in ihrem Atelier, Fotografien unter einer Lupe betrachtend, Requisiten sammelnd oder über Ebay, Instagram und andere Internetseiten scrollen, Informationen und Bildmaterial akkumulierend. Auf Ebay bestellt sie diverse Objekte, darunter ein gebrauchtes Exemplar einer Resusci Anne. Aufbewahrt und geliefert wird die Puppe in einem Koffer versehen mit Gebrauchsanleitung und Hygieneutensilien. Einer Spurensicherung gleich, öffnet Ida Kammerloch den Koffer und inspiziert den Inhalt.

Als Objekt mehrdeutig interpretierbar, streift der Koffer neoliberale Dispositive der Mobilität und Flexibilität. Zum einen unverzichtbarer Reisebegleiter, die Kapsel, welche unsere Habseligkeiten für ein mobilisiertes Leben umfasst. Ein Symbol der Sehnsucht sich der alltäglichen Passivität zu entziehen, sich zu optimieren, Erfahrungen zu sammeln und zu intensivieren.

Wer erfüllt in unserer Gesellschaft die Vorraussetzungen dafür? Welcher Pass, welches Kapital, welcher globale Stellenwert ist von Bedeutung? Welche Körper zirkulieren auf welche Weise?

Zum anderen verwandelt sich ein unbeaufsichtigtes Gepäckstück an stark frequentierten Orten, wie Bahnhöfen oder Flughäfen schlagartig in eine potenzielle Bedrohung, ein Objekt des Terrors.

Das Reisen steht eng in Verbindung mit einem weiteren Leitmotiv: Wasser. Erst ertrunken und immobilisiert in Gips, erweckt die Unbekannte aus der Seine das Interesse ihrer Zeitgenossen.  Google Street View-Aufnahmen der Seine, die den besagten Auffindungsort der Ertrunkenen zeigen sollen, tauchen neben Pools, Ständen, Sonnenuntergängen und populären Frau-Wasser Darstellungen der Kunstgeschichte auf, wie beispielsweise die Ophelia von John Everett Millais, die die Narration weiter verdichten. Als Katalysator und Raum für Projektionen fungiert Wasser somit als tödliches, wie vitalisierendes Element.

»Woman, water, tantalizing combination.«

Ein weiteres Tool bei der Erforschung und Konstituierung beider Frauenfiguren ist die Maske. Als Sinnbild von Gesellschaften und stetigem Bedeutungswandel ausgesetzt, scheint die Maske unendlich manipulierbar. Adaption, Imitation, kultureller Transfer, Appropriation, Tradition, Mutation, Kommodifizierung. Mal tritt sie im Film als Plastikobjekt mit glatter Oberfläche auf, als feuchtigkeitsspendende Tuchmaske auf dem Gesicht der Künstlerin, dann wieder als kulturelles Sammelobjekt oder Instagram Filter.


Welche Fluchtlinien verstecken sich hinter unseren Abbildern, den Totenmasken, den digitalen Masken?


»Look at these photographs I took at several Russian cemeteries. It’s impossible to see their faces without touching the grave. But who would do that? It is said that even taking these kinds of photos brings misfortune.«

Gleichermaßen das Gesicht überlagernd, erscheinen ovale Portraits, die die Künstlerin in einer dunkelhaarigen Perücke hinter Blumenbouquets zeigen. Die diesen Aufnahmen zu Grunde liegenden kurzen Texte stammen aus Instagram Posts der Verstorbenen.

Während Ida Kammerloch weder das Gesicht der Influencerin zeigt, noch ihren Namen nennt, dienen diese Zitate, sowie Fragmente aus den Reise- und Beauty Schnappschüssen als Substitut bei der Annäherung an die Person hinter der Schlagzeile. Vorstellungen von Romantik und Heteronormativität verschmelzen mit klassischen Medienkonstrukten bestehend aus weiblichem Opfer, romantischem Tatmotiv und tragischem Ende.


Die anachronistische Montage beider Narrative lässt beide Identitäten fluide und zu einem einzigen mythischen und allegorischen Korpus verschmelzen, in dem die penetrante Normativität von Frauenbildern thematisiert und rekontextualisiert wird. Resusci oder Rescue kann auch mit Befreiung übersetzt werden und ist somit nicht die Reanimierung eines Mythos, sondern eine Hinterfragung unserer patriarchalen und westlichen Narrative. Insta-gram, digitale Bildgeschichte in der wir uns scheinbar nur selbst deuten und kanonisieren.



















Mark